Es gibt Raumfahrtprojekte, die scheinen nie aus den Startblöcken zu kommen. Sie erfahren Verzögerung um Verzögerung, manchmal über Jahrzehnte. Raumfahrt-Enthusiasten, die heute gestandene Erwachsene in den Mitt-Dreißigern sind, erinnern sich daran, schon in ihrer Kindheit von diesen Projekten gehört zu haben. Projektfossilien dieser Art sind beispielsweise das James Webb-Space Telescope, das SLS-System der NASA, der russische Luna 25-Mondlander oder das europäische ExoMars-Vorhaben.
Einer dieser schon längst ausgestorben geglaubten Dinosaurier wurde aber am 21. Juli, nach jahrzehntelanger Vorbereitung tatsächlich gestartet: Das russische Nauka-Modul. Die Nervosität vor dem Start war unter den Beteiligten enorm, und das nicht nur wegen der investierten Zeit. Zum einen hatten sich im Vorfeld eine Reihe von bizarren Vorfällen ereignet (so hatte man vergessen, bei der Betankung mit Hydrazin eine Reihe von Sensoren mit Schutzkappen abzudecken, damit sie nicht den hochgiftigen Dämpfen ausgesetzt sind, und mehr noch, man hatte überhaupt vergessen sie herzustellen) und zum anderen weil der Start mit der notorisch unzuverlässigen Proton-Rakete erfolgte, die nach wie vor Russlands einzige Option für schwere Nutzlasten darstellt. Die Mission ist der wichtigste russische Start in diesem Jahr.
Nauka ist das erste größere neue Bauteil der ISS seit mehr als zehn Jahren. Fertiggestellt wurde die Struktur aber bereits 1995 und diente dann als Reserveeinheit für das Zarya-Modul der ISS für den Fall eines Startversagers mit der schon damals suspekten Proton. 2004 wurde dann beschlossen, aus dieser Reserveeinheit ein eigenständiges Forschungsmodul zu machen, wofür es allerdings von Grund auf neu ausgerüstet werden musste. Der Start war danach für das Jahr 2007 vorgesehen, verschob sich aber aus technischen und finanziellen Gründen Jahr für Jahr immer weiter.
Doch nun ist Nauka nach einem perfekten Start endlich im Orbit. Alle Systeme der Trägerrakete funktionierten einwandfrei und neun Minuten und 40 Sekunden nach dem Liftoff um 16:58 Uhr mitteleuropäischer Zeit befand sich das 20,4 Tonnen schwere Modul im Orbit. Der geplante Zielorbit mit einem Perigäum von 190 Kilometern, einem Apogäum von 350 Kilometern wurde annähernd erreicht. Die Ist-Werte lagen bei 191 x 346 Kilometer bei einer Inklination von 51,6 Grad. Von hier aus wird sich Nauka in den nächsten Tagen nach und nach auf die Kreisbahn der ISS in 415 Kilometern Höhe bringen.
Allerdings zeigten sich bereits kurz nach der Ankunft im Orbit eine Reihe von Problemen. So entfalteten sich offenbar nicht alle Antennen und Navigationsvorrichtungen und auch einige der Lageregelungsdüsen schienen – zumindest zunächst - nicht zu funktionieren. Die achttägige Rendezvous- und Dockingphase wird somit ihre Tücken aufweisen und es wird einiges Geschick erfordern, dass die ISS wieder ein neues großes Forschungsmodul erhält.
An der Außenhülle des neuen Moduls ist auch der elf Meter lange europäische Robot-Arm ERA (European Robotic Arm) installiert, der damit seit seiner Fertigstellung ebenfalls 15 Jahre auf seinen Start warten musste.
Nauka bringt neben seiner wissenschaftlichen Ausstattung insgesamt 70 Kubikmeter weiteren Lebensraum für die Kosmonauten und Astronauten an Bord der ISS mit sich. An Bord des Moduls befindet sich ein drittes russisches Wohnabteil, eine weitere Toilette, ein neues Wasser-Aufbereitungssystem, eine Sauerstofferzeugungs-Anlage und vor allem 21 wissenschaftliche Arbeitsstationen mit neuester Ausstattung wie Glove-Boxes, vibrationsfreien Arbeitsplattformen und Vorratsbehältern. An der Außenhaut des Moduls gibt es 16 weitere Arbeitsstationen, die mit dem ERA bedient werden können.
Bild: Start der Proton M mit dem Nauka-Modul; Quelle: Roskosmos