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Noch leuchtet Lenin den Weg. Noch brechen „der Freiheit Sonnenstrahlen durch dunkle Gewitter“ (obwohl ganz andere Gewitter am Horizont aufziehen). In dieser sozialistischen Idylle bahnt sich eine Raumfähre ihren Weg durch die Luft über der kasachischen Steppe. Sie erinnert frappant an die kapitalistische „Columbia“ des Erzfeindes USA. Es ist der 15. November 1988, und „Buran“ ist unterwegs zum ersten unbemannten Flug eines Raumpendlers der Geschichte.

Zu diesem Zeitpunkt hat das amerikanische STS-Programm siebeneinhalb Jahre Höhen und Tiefen hinter sich: bemannter Jungfernflug, Indienststellung von vier Raumfähren, Explosion von OV-99 „Challenger“, Zwangspause von über zwei Jahren. Nur ein paar Wochen vor dem Flug von „Buran“ sind die Amerikaner wieder zur Normalität zurückgekehrt. „Return to Flight“ haben sie das genannt, denn das klingt wie Hände abklopfen und weitermachen, und so war es ja auch in einem gewissen Sinn.

Die Sowjetunion kann von „return“ noch nichts sagen, und niemand denkt an diesem 15. November daran, dass es für „Buran“ auch niemals ein „return“ geben wird. Dieser Jungfernflug wird der einsamste Jungfernflug eines großen Raumfahrtprogramms bleiben. Dafür darf der Name „Buran“ später in den Geschichtsbüchern als Synonym für Endzeit-Tristesse eines Staatsgebildes herhalten, und manchmal gleich noch als Synonym für die Tragik des Untergangs sowjetischer Träume.

Im Augenblick ist aber noch keine Rede davon. Im Augenblick wird die Raumfähre huckepack von der stärksten Trägerrakete ins All getragen, die bis dahin auf der Erde entwickelt wurde: „Energija“. Der Name sagt schon alles. „Buran“ ist während des Aufstiegs eine reine Nutzlast, anders als der amerikanische Orbiter, der mit eigenen Haupttriebwerken (den Space Shuttle Main Engines, SSME) brav beim Flug mithilft. „Energija“ trägt in diesem Moment knapp achtzig Tonnen Nutzlast, und sie könnte – je nach Konfiguration der Zusatzraketen, die übrigens nicht mit Festtreibstoff fliegen – sogar noch mehr Tonnen in eine niedrige Umlaufbahn bringen. Was sie aber nicht trägt sind Kosmonauten. Obwohl „Buran“ bis zu vierzehn Besatzungsmitglieder beherbergen könnte, sind die Flugdecks gähnend leer. Das ist auch besser so, denn ein funktionierendes Lebenserhaltungssystem ist für „Buran“ noch nicht fertig.

Die russische Seele ist ein weites Land. Russland klingt nach Romantik und viel Melancholie. Ähnlich klangvoll sind die Namen der ersten beiden Raumfähren, die für den Einsatz im All vorgesehen sind: „Buran“ – Schneesturm, und „Ptitschka“ – Vögelchen. Der kleine Vogel wird allerdings nicht fliegen, sondern steht bis heute vermutlich in Baikonur. Noch wesentlich dramatischer das Ende des „Schneesturms“: Nach Jahren eines Lagerhallendaseins fällt ihm im Mai 2002 der Himmel in Form der Hallendecke auf den Kopf – mehrere Arbeiter sterben, der zerstörte Orbiter wird abgewrackt.

Am 15. November 1988 ist das Zukunft – im Augenblick steht eine heikle Phase bevor – die Trennung von Nutzlast und Trägerrakete. Alles läuft nach Plan, „Buran“ wird vom bordeigenen Orbital-Manövrier-System in seine endgültige Umlaufbahn gebracht und beginnt die erste von zwei Erdumkreisungen. Die Testmission trägt den klangvollen Namen „1K1“, ein Kürzel wie aus einem James-Bond-Film. Knapp zwei Stunden später, insgesamt zwei Stunden und 20 Minuten nach dem Start, wird die Bremszündung vorgenommen, die die Raumfähre auf eine Rückkehrbahn zur Erde bringt. Alles zur Gänze per Fernsteuerung. Die Space Shuttles der USA sollen erst 18 Jahre später mit einem komplett automatischen Landesystem ausgerüstet werden. Buran landet sauber und schnell, mit über dreihundert Stundekilometern, in Baikonur, gebremst durch Landefallschirme.

Der Gleitflug durch die Atmosphäre, getragen durch die charakteristischen Delta-Flügel, ist für die Konstrukteure aber schon wieder vertrautes „Terrain“. Über Jahre sind Atmosphären-Gleitflüge und Tests mit Modellen der Raumfähre absolviert worden. Und das durchaus spektakulär: ein Modell mit dem auf der Zunge zergehenden Namen „OK-GLI“ ist mit Triebwerken ausgerüstet und startet für seine Testflüge selbst, im Gegensatz zum einzigen Testmodell der Amerikaner, „Enterprise“.

Die Landung von „Buran“ schließt einen langen Entwicklungsweg erfolgreich ab. Es stehen bereits die nächsten Testflüge fest: eine Liste bis in die Mitte der neunziger Jahre hinein. Die Raumtransporter sollen Zubringer-Fahrzeuge der Raumstation MIR werden. „Buran“, „Ptitschka“, und welche schönen Namen noch gekommen wären. Dann aber hört die Sowjetunion zu existieren auf, Boris Jelzin beendet das Programm und der Schnee der Zeit fällt auf die übrig gebliebenen Modelle. Als am 29. Juni 1995 endlich eine Raumfähre an die Station MIR andockt, ist es eine amerikanische.

Was von der „Buran“-Ära geblieben ist kann man heute in Technikmuseen, Stadtparks oder Lagerhallen besichtigen. Es ist ein etwas undurchsichtiges Dickicht an Modellen, OK-TVA oder OK-TVI oder OK-M heißen sie. Wo sie stehen, verbreiten sie ein Gefühl des „was-wäre-gewesen-wenn“. Man kann rundherum gehen, im Moskauer Gorki-Park auch hinein, Eis essend oder fotografierend. Manchmal braucht man eine Eintrittskarte.

Lenin leuchtet nicht mehr. Die Zeilen der sowjetischen Hymne tragen jetzt in Klammer „1977-1991“.

Doppler   

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Raumfähre Buran
Siehe auch: Raketentypenbuch (Eugen Reichl / Astra)