Europas unbemanntes Versorgungsraumschiff für die ISS
Das erste Automated Transfer Vehicle ATV, das heute, m 9. März 2008, zu seinem Jungfernflug aufbrach, trägt einen prominenten Namen: den von Jules Verne, dem bekannten französischen Sciencefiction-Autor des 19. Jahrhunderts.
In seinen phantastischen Romanen sandte Jules Verne Menschen mit einer Riesenkanone zum Mond, mit einem ultramodernen Unterseeboot, der Nautilus, 20.000 Meilen unter den Meeresspiegel, und eine Expedition drang sogar ins Innere der Erde vor. Auch wenn das ATV nicht bis zum Mond, sondern „nur“ in Höhen von zirka 400 Kilometer, der ISS-Umlaufbahn, gelangen wird, sind seine Aufgaben doch so vielfältig und komplex, dass es einer Reihe ausgeklügelter, bisweilen schon fast utopisch anmutender Systeme und Verfahren bedarf, um die Mission erfolgreich durchzuführen. Grund genug also, dem ersten „richtigen“ und äußerst komplexen Raumfahrzeug der Esa den Namen „Jules Verne“ zu geben. Auch wenn das ATV in mancher Hinsicht nicht an dessen Utopien heranreicht, in einem Punkt – der Geschwindigkeit – ist es seinen Konzepten um (Licht)jahre voraus; das ATV benötigt für eine Umrundung der Erde nur 90 Minuten, Vernes Protagonist Phileas Fogg hingegen benötigte für dieses Kunststück noch 80 Tage, musste dabei auf eine Vielzahl von Tricks zurückgreifen und konnte die Wette nur äußerst knapp gewinnen.
„Unbemannt“ und doch superkomplex
Das ATV hat eine Vielzahl an Aufgaben zu erfüllen, zum Beispiel den flexibel gestalteten Nachschubtransport zur ISS, vollautomatische Rendezvous- und Andocksequenzen und die Beschleunigung der ISS auf eine höhere Umlaufbahn, um nur die wichtigsten zu nennen. Komplexe Aufgaben bedingen ein komplexes Raumschiff und nicht umsonst bezeichnet die Esa das ATV gerne als das herausforderndste Raumfahrzeug, das Europa bis dato gebaut hat, und das, obwohl das ATV offiziell als unbemannt deklariert ist. Warum dieser scheinbare Widerspruch?
Unbemannte Raumfahrzeuge greifen auf eine einfache Strategie zurück um die Kosten zu senken, sie nehmen einfach ein höheres Risiko was den erfolgreichen Abschluss der Mission betritt, in Kauf; dies kann man sich guten Gewissens erlauben, weil man im schlimmsten Fall eben nur die Sonde, aber keine Menschenleben aufs Spiel setzt. Beim ATV hingegen geht diese einfache Kosten-Nutzen-Rechnung nicht auf, da es einerseits mit der bemannten Raumstation interagieren muss und andererseits nur ein bedingt unbemanntes Raumfahrzeug ist. Bedingt unbemannt bedeutet in diesem Zusammenhang, dass zwar während bestimmter Missionsphasen, wie etwa Start und Landung, keine Astronauten an Bord sind, dass hingegen zu anderen Zeitpunkten das Raumschiff sehr wohl mit einer Besatzung ausgestattet sein kann. Im Rahmen einer typischen ATV-Mission bedeutet das, dass das ATV unbemannt an der Spitze einer Ariane 5 startet um später vollautomatisch die Rendezvous- und Andocksequenz mit der ISS durchzuführen. An der ISS angedockt, verwandelt sich das ATV von einem unbemannten Raumfahrzeug in eine Art bemanntes Labormodul, in dem sich innerhalb der nächsten sechs Monate immer wieder mal mehrere ISS-Astronauten aufhalten können, hauptsächlich um wie bei einem Frachter die „Ladung zu löschen“. In seiner letzten Missionsphase, der Rückkehr zur Erde, ist das ATV dann wieder völlig unbemannt, und das ist auch gut so! Schließlich verglüht es ja vollständig beim Eintritt in die Erdatmosphäre, und Weltraumbegräbnisse sind in der Aufgabenbeschreibung des ATVs nicht vorgesehen.
Es ist vor allem diese Kombination aus vollautomatischer Navigation und teilweiser Bemannung, die das ATV zu einem hochkomplexen Raumschiff macht. Eine Vielzahl an aufwändigen und redundanten Systeme ist notwendig, um während der verschiedenen Missionsphasen, die Sicherheit der Astronauten an Bord der ISS, aber auch des ATVs zu gewährleisten. Dazu zählen neben der Druckkabine und dem Lebenserhaltungssystem, die den sicheren Aufenthalt der Astronauten an Bord des ATV ermöglichen, auch das Mikrometeoriten- und Weltraumschrottschutzsystem, sowie das russische Andocksystem. Welche Ingenieursleistung speziell in diesem Subsystem des ATVs steckt, wird einem erst bewusst, wenn man sich überlegt welche Aufgaben es zu erfüllen hat. So muss es neben der eigentlichen Andockfunktion auch für den sicheren und luftdichten Zusammenhalt zwischen ATV und ISS sorgen, und das auch dann, wenn das ATV seine vier Haupttriebwerke zündet, um die ISS in eine höhere Umlaufbahn zu beschleunigen.
Fasst man alle diese Anforderungen zusammen so kommt ein sehr komplexes und recht großes Raumschiff dabei heraus, dass sich ohne weiteres mit dem Apollo-Mondraumschiff der NASA und dem Progress-System der Russen vergleichen kann (siehe: http://www.esa.int/esaKIDSen/SEMAJIXJD1E_Liftoff_1.html)
Auch die nackten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, wie groß das ATV im Vergleich zum gegenwärtig verwendeten Progress-System ist:
|
Sojus bzw. Progress |
ATV |
Länge |
7,48 m |
9,79 m |
Außendurchmesser |
2,72 m |
4,48 m |
Volumen |
9,00 m³ |
45,0 m³ |
Nutzlastfähigkeit |
2.315 kg |
7.667 kg |
Startmasse |
7.020 kg |
20.500 |
Den wahrscheinlich besten Überblick in Bezug auf die Komplexität des ATVs bekommt man, wenn man den Ingenieuren beim Zusammenbau zusieht. Wenn Sie mal bei der ESTEC vorbeikommen, dann sollten sie schauen ob nicht gerade im großen Reinraum ein ATV zusammengebaut bzw. getestet wird; es ist faszinierend zu sehen, aus wie vielen verschiedenen Komponenten sich das Raumfahrzeug zusammensetzt.
Für alle, die solch einen Besuch nicht für die nächste Zukunft eingeplant haben, gibt es noch eine weitere Alternative: auf der Esa-WWW-Seite unter http://esamultimedia.esa.int/docs/atv_model/ATV_2002_Intro.htm kann man ein Papiermodell zum selber Basteln (samt Anleitung) herunterladen, das ebenfalls einen sehr guten Einblick in die Komplexität dieses Raumfahrzeugs gibt.
14 Jahre bis zum Jungfernflug
Natürlich ist so ein großes und komplexes Raumschiff wie das ATV nicht etwas das man von heute auf morgen entwickeln und bauen kann – und billig ist es auch nicht gerade. Bereits 1994 wurde das ATV Programm im Zuge des ISS Programms beschlossen, 14 Jahre und 1,3 Milliarden Euro später steht Jules Verne endlich am Startplatz. Geht alles glatt, so sollen in den nächsten Jahren noch zumindest vier weitere ATVs folgen und die ISS mit den wichtigsten Gütern versorgen.
Im Gegensatz zu den späteren Missionen wird der Jungfernflug wesentlich länger dauern um die vollautomatischen Operationen wie das An- und Abdocken bis auf Herz und Nieren zu testen. Aus diesem Grund wird der Anflug zur ISS auch nicht die üblichen 2-3 Tage in Anspruch nehmen, sondern gleich zehnmal so lange sein, gilt es doch Abbruchsequenzen und mögliche Fehlerverfahren bis ins Kleinste durchzuspielen und so zu demonstrieren, dass der europäische 20-Tonner vollautomatisch und sicher seinen Weg zur ISS finden und dort auch an- und abdocken kann. Erst nachdem alle Tests erfolgreich durchgeführt worden sind wird das ATV am 3. April an der Internationalen Raumstation andocken. Spätestens dann werde ich auch wissen, ob jenes elektronische Gerät, dass ich vor mehr als 8 Jahren mitentworfen habe klaglos funktioniert. Die PCE – Proximity Communications Equipment, frei übersetzt die Nahbereich-Kommunikationseinheit – ist ein etwas größere Schuhschachtel, die bis obenhin mit Elektronik vollgestopft ist, um die Datenübertragung zwischen dem ATV und der ISS zu gewährleisten. Sie wurde bereits am 2. März 2005 mit einem Progress Raumfahrzeug auf die ISS gebracht und wartet seitdem auf die Ankunft es (ersten) ATVs. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist es, dem ATV die Positionsdaten der ISS zu übermitteln, damit dieses den korrekten Anflugskurs für die Dockingsequenz berechnen und auch einhalten kann. Die Funktion könnte man am ehesten mit dem Gleitstrahl eines Flughafens vergleichen, welcher dem Flugzeug auch bei schlechter Sicht den Weg zur Landebahn weißt – nur ist der „Gleitstrahl“ der PCE ganze 30 km lang und in dem anfliegenden ATV sitzt auch kein Pilot, der im Notfall mit Augenmaß die „Kiste runterbringen kann“.
Jules Verne und ATV-Evolution
Mit Jules Verne, haben die Europäer ein System zur Hand, das beinahe einem bemannten Raumfahrzeug gleichkommt, nur dass es eben unbemannt startet und „landet“, dafür aber vollautomatisch docken kann. Was jedoch noch viel wichtiger ist: Mit dem ATV wird Europa zum ersten Mal Erfahrungen mit komplexen, weil „beinahe-bemannten“, Missionsoperationen machen – eine Grundvoraussetzung für einen späteren Flug zum Mond oder Mars. Bevor es soweit ist wird zwar noch viel Wasser die Donau hinabfließen, das hindert die Ingenieure aber nicht daran schon heute ausgefuchste Pläne für eine anderwärtige Verwendung des ATVs , als Vorbereitung der Mond- und Marspläne, zu schmieden. Eines der ausgefallensten Konzepte ist wohl dabei das des „Schwerkraftlaboratoriums“. Hierbei werden zwei ATVs im Erdorbit so miteinander verbunden, dass sie um einen gemeinsamen Schwerpunkt rotieren und dabei eine künstliche Schwerkraft von einem Sechstel (Mond) oder einem Drittel (Mars) der Erdschwerkraft erzeugen. Damit sollen Langzeiteffekte von minimierter oder simulierter Schwerkraft studiert werden: essentielles „Gewusst wie“ für eine mögliche permanent bemannte Mond- oder Marsstation. Über einen speziellen Tunnel miteinander verbunden, könnten die Insassen dieser ersten kleinen europäischen Raumstation von einem Modul in das andere überwechseln und hätten damit ein wesentlich größeres Platzangebot als ihre Kollegen in der Sojus- oder der Orion-Kapsel und vermutlich auch mehr als die Protagonisten in Jules Vernes Roman „Reise zum Mond“. Der große französischen Sciencefiction-Autor hätte damit sicher seine Freude gehabt...